HORST MILDE – URKNALL DER LAUFSZENE - Gründervater des Berliner Marathons und vieler Laufveranstaltungen

Horst Milde (80) ist Gründervater des Berlin-Marathons und vieler Laufklassiker. In der Laufszene mischt er als Experte immer noch kräftig mit
Urban Sports Club
Tegla Loroupe mit Horst Milde nach dem Berlin-Marathon 1999
Tegla Loroupe mit Horst Milde nach dem Berlin-Marathon 1999

HORST MILDE

* 24.10.1938 in Charlottenburg; verheiratet mit Sabine Milde; drei Kinder: Gesine, Karsten und Mark (seit 2004 Renndirektor des Berlin-Marathon)

Tätigkeiten
Konditormeister und Dipl. Kaufmann; Lauforganisator seit 1964; Chef des Berlin-Marathon 1974-2004; Vorsitzender von „German Road Races e. V.“ seit 1985

Motto

sich niemals unterkriegen lassen

Persönliche Bestleistungen und Erfolge
800 m – 1:49,8 min – 13.6.1965;
1.500 m – 3:51,8 min – 12.6.1965; Deutscher Meister mit 3 x
1.000m-Staffel 1964 und 1965; Marathons in New York, Boston, Honolulu, London, Wien, Stockholm und Kopenhagen
Wie vergänglich sind doch Marathon-Weltrekorde. Allein die Weltrekorde der männlichen Läufer wurden in Berlin bereits acht Mal unterboten, zuerst 1998 von Ronaldo da Costa in 2:06:05 Stunden, zuletzt 2018 von Eliud Kipchoge in 2:01:39 Stunden. Aber auch diese Zeit wird weiter verbessert werden.

Wie unvergänglich ist dagegen die Leistung des Organisationspioniers Horst Milde, der bereits als Student vor mehr als einem halben Jahrhundert Laufveranstaltungen erfand, plante und durchführte. Der Cross-Country-Lauf am Teufelsberg 1964 war sein erstes Meisterstück und der Urknall der Berliner Laufbewegung. Später organisierte Milde den Berlin-Marathon, den Frauenlauf, die 5x5-km-Staffel, die City-Nacht, den Silvester- und Neujahrslauf und weitere läuferische und sportlich-kulturelle Innovationen, die heute allesamt Kultstatus genießen, wie zum Beispiel Literatur- Marathon oder Läufergottesdienst.
Mit Ehefrau Sabine beim 80. Geburtstag
Mit Ehefrau Sabine beim 80. Geburtstag
2014 initiierte Milde sogar einen 10-km-Lauf hinter Gefängnismauern in der JVA Plötzensee, den Gefangene und Externe gemeinsam absolvieren. Für seine Verdienste, vor allem als Vater des Berlin-Marathons, hat der waschechte Berliner schon das Bundesverdienstkreuz und viele andere Auszeichnungen erhalten, zuletzt 2018 die Goldene Sportplakette des Landessportbundes Berlin.

Sein Erfolgsrezept? Er selbst vermag es nicht auf einen Nenner zu bringen. Auf jeden Fall spielten bei der Realisation seiner Ideen stets seine Familie, seine Angestellten, seine Freunde, Freundesfreunde, Bekannte und Bekannte von Bekannten eine entscheidende Rolle. Denn Mildes größtes Talent ist es, Helfer zu gewinnen und Begeisterung zu wecken. Von Anfang an hatte er bei allen Lauf-Aktionen ideensprühende Mitorganisatoren an der Seite, die ehrenamtlich Gehirnschmalz, Zeit und Kraft investierten. „Ich habe immer Verrückte gehabt, die mitgeholfen haben“, beteuert Milde heute oft.

Auch seine eigenen Erfolge als Mittelstreckenläufer nutzte er geschickt, um Mitläufer und Mitstreiter zu akquirieren. „Ich habe im Mommsenstadion Sportler unter der Dusche angequatscht“, erinnert er sich schmunzelnd. Mit seiner persönlichen Bestzeit über 800 Meter in 1:49,8 Minuten (Aschenbahn!) wäre der ehemalige Mittelsteckler vergangenes Jahr bei den Deutschen Meisterschaften in Nürnberg Fünfter geworden. Zu seinen größten sportlichen Erfolgen gehört die zweimalige Deutsche Meisterschaft mit der 3x1.000m- Staffel des SCC.

Laufspaß für die Läufer – Laufpaß für die Autos

Mit Ronaldo da Costa in Berlin 1998
Mit Ronaldo da Costa in Berlin 1998
1974 erfand der Mittelstreckler den Berlin- Marathon beziehungsweise das Berlin- „Marathönchen“, denn die Premiere war ein kleiner Waldlauf mit 244 Finishern. Erst 1981 wurden die 42,195 km zur urbanen Sensation, weil die Marathonstrecke plötzlich mitten in die City platzte: Dank Milde und seiner Überzeugungskraft gehört es heutzutage längst zum Stadtleben, dass viele Boulevards oder sogar die ganze pulsierende Innenstadt hin und wieder für die Autos tabu sind. Dann sind die Straßen frei für den Puls der Athleten.

Alle Veranstaltungen konzipierte Familie Milde einst am Eßtisch ihrer eigenen Konditorei in Tempelhof, die bald von Horsts Ehefrau Sabine geleitet wurde, weil der gelernte Konditormeister lieber Läufe kreierte statt Torten. Seine zum Kalorien-Verbrennen geeigneten Laufrezepte fanden erst Hunderte, dann Tausende, schließlich Millionen Teilnehmer. Allein für den Berlin-Marathon haben sich seit seiner Premiere bereits über eine Million Menschen angemeldet, 862 000 sind dabei bisher ins Ziel gekommen.

Der Marathon-Vater selbst ist allerdings längst über das Berliner Marathon-Ziel hinausgeschossen. Seit 2004 ist er nicht mehr Chef der größten deutschen Sportveranstaltung, sondern eine Art Lichtgestalt der globalen Running-Szene. Er reist zu Marathons in der ganzen Welt, hält Reden, eröffnet Symposien, inspiriert andere Organisatoren, pflegt Kontakte zu Renndirektoren, Managern, Bürgermeistern, Weltrekordlern, Journalisten und stürzt sich alle paar Monate in neue Projekte. Zuletzt war das eine Spendenaktion für den Wiederaufbau des griechischen Dorfes Mati, das an der Laufstrecke des Athen-Marathons liegt und im Juli 2018 bei einem Feuerinferno fast komplett zerstört wurde.
Joanna Zybon

INTERVIEW

Am 8. November wird der „1. Berliner Cross-Country-Lauf“ 55 Jahre her sein. Horst Milde war damals der Initiator. Aus dem Stand hatten sich mehr als 700 Läufer angemeldet. Joanna Zybon sprach mit Milde über Anfänge und Gegenwart.
Warum war deine erste Lauferfindung gleich so erfolgreich? Wir haben viel Werbung gemacht, die Ankündigungen an alle Berliner Vereine geschickt, auf dem Kurfürstendamm verteilt, auf dem Parkplatz bei Hertha BSC hinter die Scheibenwischer geklemmt. Auf den Zetteln stand: „Jeder Mann, der nicht auf der Strecke bleibt, bekommt die Berliner Cross-Nadel.“ Da die ersten beiden Austragungen mit Hilfe des FU-Sportreferates stattfanden, gab es viel Mundpropaganda unter den Studenten. Die Sekretärin der FU ist fast verrückt geworden, weil so viele anriefen. Aber alle Berliner durften mitrennen. Vor allem aber hat die Presse gleich mitgezogen, auch der TAGESSPIEGEL, für den Ekkehard zu Megede berichtete. Seine Schlagzeile nach dem Lauf lautete: „Da flog der Tümmler an dem Hecht vorbei.“ – Bodo Tümmler gewann den Hauptlauf vor Bernd-Dieter Hecht, Berlins bestem Langstreckler.

Du warst 1964 selbst noch als Mittelstreckenläufer aktiv. Worauf bist du im Rückblick stolzer, auf deine sportlichen oder organisatorischen Erfolge? Auf beides. Ein guter Organisator sollte die Freuden und Leiden des Sports kennen. Außerdem hing es miteinander zusammen. Als Berliner und Deutscher Meister konnte ich bei der Organisation mit diesem Pfund wuchern. Sport war mir schon zur Schulzeit wichtig. An der Askanischen Oberschule war ich Klassenbester in allen Sportarten – Leichtathletik, Handball, Rudern – und bester Sportabiturient meines Jahrgangs.
„DA FLOG DER TÜMMLER AN DEM HECHT VORBEI“
Schlagzeile im TAGESSPIEGEL im November 1964, nachdem Bodo Tümmler den Hauptlauf beim 1. Berliner Cross-Country-Lauf vor Bernd-Dieter Hecht gewonnen hatte
Verleihung der Goldenen Sportplakette an Horst Milde im Oktober 2018
Verleihung der Goldenen Sportplakette an Horst Milde im Oktober 2018
Wie sieht heute dein Sportprogramm aus? Ich laufe jeden zweiten Tag zwischen 45 und 75 Minuten, meistens durch die Tempelhofer Parks und Kleingärten. Dazu jeden Tag Gymnastik. Mein Arzt Dr. Willi Heepe (früherer Medical Director des Berlin- Marathons) motiviert mich dazu, auch meine Hanteln zu benutzen. Früher bin ich Treppen raufgesprungen, immer drei Stufen auf einmal. Heute muss ich Fußgymnastik machen. Beim Essen passe ich auf, nicht zuviel Brot zu essen. Ich finde es nicht gut, wenn Lauforganisatoren fett werden. Man muss ein Vorbild sein.

Sehr emotional war für viele der Berlin- Marathon am 30. November 1990, der zum ersten mal durch Ost und West führte – nur drei Tage vor dem Ende der DDR. Gab es viele bürokratische Hürden, um auf dem Staatsgebiet der DDR laufen zu dürfen? „Staatsgebiet der DDR“ – ach, das habe ich so oft gehört, schon 1989 bei der Vorbereitung des ersten Neujahrslaufs, der am 1. Januar 1990 ebenfalls durch das Brandenburger Tor ging. Im Polizeipräsidium der DDR musste ich zehn oder zwölf Offizieren Rede und Antwort stehen. Ich habe auch gleich den Ost-Berliner Leichtathletik-Verband eingebunden. Es lief trotzdem nicht alles glatt. Am Vorabend des Marathons parkten noch Autos auf der Laufstrecke. Also habe ich einen ranghohen Volkspolizisten angesprochen, der zur nächsten Telefonzelle marschierte und anordnete, alle Autos abzuschleppen. Am Sonntag war die Strecke frei für die Läufer.

Du engagierst dich fürs Berliner Sportmuseum. Welche Highlights kann man dort bewundern? Die Laufschuhe von Naoko Takahashi (erste Frau unter 2:20 Stunden) und Paul Tergat (erster Mann unter 2:05 Stunden), das Lauf-Trikot von Haile Gebrselassie, das Zielband von Takahashi mit Autogramm. Viel Kleidung, die die Sieger trugen, auch bei Olympia und WM. Original-Urkunden, Fackeln, Medaillen, Fotos, Marathonplakate. Sammlungen von sportmedizinischen Büchern und Fachzeitschriften.

Als Vorsitzender von „German Road Races“ hast du eine Plattform, um Themen unter das Läufervolk zu bringen, die sonst nirgendwo auftauchen. Kannst du ein Beispiel geben? Da wären einige Beiträge von Helmut Winter mit Hintergründen und Tabellen zum Marathon-Weltrekord von Eliud Kipchoge. Bis jetzt wurde noch in keinem anderen Medium berichtet, wie in den letzten zwei Jahren die technischen Voraussetzungen für die Spitzengruppe beim Berlin- Marathon optimiert wurden. Durch die Einführung von Zeitinformationen und Renntempo-Projektionen kann die Spitze das Renntempo zunächst zirka alle 32 Sekunden korrigieren und dadurch konstant halten. Früher mussten die Pacemaker das Tempo im Gefühl haben, heute erhalten sie anfänglich alle 200 Meter eine Reihe aktualisierter Daten auf dem Display des Führungsfahrzeugs. Und sie werden ein paar Tage vor dem Rennen extra für dieses System ausgebildet. Mit solchen Hilfestellungen wird ein Weltrekord natürlich begünstigt.

Was ist für dich bei all der Marathonbegeisterung das Wichtigste? Die Bambiniläufe und der Mini-Marathon der Schulen. Die verpasse ich nie. Man kann den Wert des Laufens für die Zukunft der Kinder und Jugendlichen nicht hoch genug einschätzen.

ELIUD KIPCHOGE: GEBREMST ZUM WELTREKORD

Bei allem Jubel über den 2018 in Berlin aufgestellten Marathon- Weltrekord von Eliud Kipchoge in 2:01:39 Stunden ist ein Aspekt bislang weitgehend untergegangen: die Verbesserung der Bedingungen durch eine von außen vorgegebene Tempogestaltung
Vor dem Marathonrekord 2018: Eliud Kipchoge in Berlin
Vor dem Marathonrekord 2018: Eliud Kipchoge in Berlin
Die Hauptrolle dabei spielte im September das LED-Display des Kamerawagens, das auf Eliud Kipchoges persönlichem Wunsch hin eine Reihe von detaillierten Zeitinformationen und Zeitprojektionen zeigte. In der besonders wichtigen Anfangsphase des Rennens lieferte das Display die Daten alle 200 Meter an Kipchoge, damit er das ideale Renntempo möglichst bald finden und noch vor Ende des ersten Laufkilometers korrigieren konnte.

Das war auch nötig, denn in der Tat waren Kipchoge und seine „menschlichen Hasen“ anfangs viel zu schnell. 31 Sekunden bei 200 Meter hätten eine Endzeit von unter 1:50 Stunden bedeutet. Mit drei weiteren Zwischenzeiten konnte die projizierte Endzeit bei Kilometer eins auf 1:55 Stunden gesenkt werden – immer noch viel zu schnell. Bekanntlich rächt sich ein zu hohes Anfangstempo im späteren Rennverlauf. Aber dank des „mechanischen Hasen“ mit fünf weiteren Anzeigen konnte während des zweiten Kilometers Stück für Stück das Tempo weiter gedrosselt werden. Ein Weltrekord blieb so im Bereich des Machbaren. Ab Kilometer zwei wurden die Anzeigen „nur“ noch alle 500 Meter aktualisiert.

Um mit dem „mechanischen Hasen“ arbeiten zu können, erhielten drei Tage vor dem Berlin-Marathon kenianische Pacemaker einen Praxistest. Diese neue Praxis verstößt nicht gegen IAAF-Richtlinien, wurde mittlerweile in Chicago, London und Toronto als Standard eingeführt und macht „die Hasen alter Prägung“ offensichtlich überflüssig.
JZ
Berichte des Zeitnehmerspezialisten Helmut Winter auf „German Road Races“:
germanroadraces.de/?p=108794
FOTOS Victah Sailer, Jürgen Engler, Joanna Zybon

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